Sonntag, 11. November 2012

"Live-Twittern" aus dem Gerichtssaal - erlaubt?

Stellen wir uns folgendes Szenario doch mal vor:
Die JARP-Redaktion sitzt in einer öffentlichen Gerichtsverhandlung und möchte aufgrund des hohen medialen Interesses den Abermillionen von Lesern live berichten. Ein Tweet kann dabei jeweils 140 Zeichen aufweisen. Den Fall kann man natürlich auch (realistischer) insoweit umwandeln, dass ein Journalist einer bekannten Zeitschrift agiert. Meldungen via Blogs, Facebook, Google + etc. sind gleichfalls denkbare Äquivalente für die Fallgestaltung.

Nun wird der beklagten Partei dieses Vorgehen womöglich nicht gefallen. So könnte Sie auf eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes plädieren. Die Lösung dieses Problems erfolgt mithin über § 169 S. 2 GVG

Nach dieser Norm sind Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhaltes unzulässig.
Ob eine Berichterstattung über Twitter, Facebook, Blogs etc. hierunter fällt, ist zumindest fraglich. 
In der juristischen Auslegungsmethodik sind in Anlehnung an Carl von Savigny vier Auslegungsweisen anerkannt: Grammatik, Entstehungsgeschichte, Systematik und Telos.

Die grammatikalische Auslegung ist schnell vorgenommen; der abschließende Wortlaut mit den Aufzählungen Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnamen sowie Ton- und Filmaufnahmen gibt nichts für eine Einordnung der Online-Kurznachrichten her. § 169 S. 2 GVG ließe das Twittern also zu.

Auch die historische Auslegung kann nichts anderes ergeben. Das Gerichtsverfassungsgesetz wurde am 12.09.1950 ausgefertigt und am 09.05.1975 neu bekanntgemacht. § 169 S. 2 GVG wurde im Jahr 1964 eingeführt. Das Internet gab es zu der Zeit noch nicht, sodass der Gesetzgeber sich auch nicht mit dieser Konstellation auseinander hätte setzen können.

Die systematische Auslegung fällt dagegen schon schwerer aus. Es ließe sich das Grundgesetz und Art. 5 Absatz 1 Satz 2 Var. 2 GG ( Rundfunkfreiheit ) heranziehen. Im Sinne einer Normenpyramide steht das Verfassungsrecht über dem einfachen Gesetzesrecht ( hier: § 169 S. 2 GVG ).
Die Rundfunkfreiheit wird weit verstanden, weshalb redaktionell gehaltene Internetdienste mitumfasst werden. Falls die Tweets, Blogs etc. einer großen Zeitschrift zigfach gelesen und verfolgt werden, kann  nichts anderes gelten. Dementsprechend könnte man aus systematischer Sicht eine gleiche Auslegung vornehmen und einen Verstoß annehmen.
Allerdings soll § 169 S. 2 GVG die Rundfunkfreiheit doch gerade beschränken, wenn dortige Aufnahmen unzulässig sein sollen. Den Begriff der "Öffentlichkeit" kann nur derjenige vorgeben, der nach der Rechtsordnung über das Bestimmungsrecht verfügt. Dies kann bei Gerichtsverhandlungen nur der Staat als Gesetzgeber sein. Dann muss die Auslegung des Begriffes Rundfunk im Rahmen des § 169 S. 2 GVG enger ausfallen und nicht weit wie nach Art. 5 Absatz 1 Satz 2 Var. 2 GG. Die Internet-Kurnachrichten fallen somit aus systematischer Sicht nicht unter die Norm.

Bleibt zuletzt eine teleologische Auslegung nach Sinn und Zweck. Die Norm soll, schlagwortartig, eine Prangerwirkung des Beschuldigten verhindern. Sie dient dem Schutz des Persönlichkeitsrechts eines jeden Verfahrensbeteiligten, des fairen Verfahrens und der ungestörten Rechtsfindung. Insbesondere bei Strafverfahren muss sich der Angeklagte unfreiwillig der emotional hohen Belastung stellen. Das Veröffentlichen durch Bild- und Tonaufnahmen inmitten der Verhandlung erhöht die nachteiligen Wirkungen. 
Sind all diese Punkte bei Online-Kurznachrichten wie Twitter denn zu bejahen? 
Die Verfahrensbeteiligten haben keine Kameras vor sich, die sie enorm einschüchtern könnten. 
Ihr Verfahrensverhalten wird nicht in gleicher Weise und Stärke beeinflusst. Eine Veröffentlichung von Fernsehbildern findet ebenfalls nicht statt. 
Dass später zu vernehmende Zeugen ihre eigenen Aussagen anpassen würden ist ebenfalls kein durchschlagendes Argument. Zwar werden diese Zeugen die Aussagen der Verfahrensbeteiligten via Smartphones verfolgen können. Verhandlungspausen, Berichterstattungen in den Tagespressen und mehrere Sitzungstage andauernde Verhandlungen erbringen allerdings jetzt schon die selbe Wirkung.

Schlussendlich liegt nach keiner Auslegungsmethode ein Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz aus § 169 S. 2 GVG vor.

Anmerkung: Das Schöne an der Rechtswissenschaft ist, dass bei solchen Fragen eine andere Auffassung sehr gut vertretbar ist. Das hiesig angenommene Ergebnis ist beileibe nicht in Stein gemeißelt. Bei der Auslegung nach Sinn und Zweck sagt der eine Hop, der andere Top.
Interessanterweise wurde dieses Szenario noch nicht obergerichtlich entschieden. Uns ist noch nicht einmal eine erstinstanzliche Entscheidung bekannt. Wer also Lust, viel Zeit, etwas Geld und gute Nerven hat, kann es mal versuchen. (Bitte das Schelmenhafte erkennen)

Die Konstellation ist angelehnt an einen längeren Fall von Dr. Florian Knauer, Juristische Schulung 2012, S. 711. 

Euer
"J"

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